Wenn Geschichte lebendig wird
Die Geschichte eines Lohnsteuerhilfevereins zu schreiben oder die Geschichte einer Baugenossenschaft – das klingt zunächst nicht unbedingt spannend. Wenn man sich jedoch in die alten Quellen vertieft, in handschriftlich verfasste Sitzungsprotokolle etwa oder vergilbte Schreibmaschinen-Durchschläge von Briefen, bekommt man einen ganz besonderen Zugang zu vergangenen Zeiten.
„Ein Heim für erwerbstätige Frauen und Mädchen“
So ließen die Recherchen zu der Chronik einer Baugenossenschaft die Stadt München in den 1920er-Jahren wiederauferstehen: Nicht nur Kunst und Kultur erlebten damals eine Blütezeit, auch die Baubranche boomte. In den Niederschriften der Aufsichtsratssitzungen des Bauvereins München-Haidhausen wurde die Planung, Finanzierung und Durchführung der damaligen Bauprojekte genau dokumentiert. Weil die handschriftliche Quelle in Sütterlin geschrieben ist, musste sie besonders genau gelesen und wichtige Teile transkribiert werden.
Die erste Seite des Protokolls der Gründungssitzung des Bauvereins München-Haidhausen vom 3. Februar 1919.
Ein Bauprojekt der Genossenschaft fiel aus dem Rahmen des Üblichen: Ein Heim für erwerbtätige Frauen und Mädchen, gebaut im Jahr 1925. Zu Beginn der Recherchen wussten wir Historiker nur, dass das Gebäude im Auftrag eines katholischen Vereins errichtet wurde. Dann fanden wir einen Namen: „Frau Amman“.
Eine unbekannte Heldin
Nachforschungen führten zu einer faszinierenden Frau, Ellen Ammann, einer deutsch-schwedischen Politikerin und katholischen Aktivistin. Das Wohnheim für arbeitende Frauen war nur eines von vielen Projekten, für die die sechsfache Mutter sich engagierte. Sie wurde 1919 in den Bayerischen Landtag gewählt und war eine erbitterte Gegnerin Adolf Hitlers. Sie gründete den katholischen Bayerischen Frauenbund Bayern und eine der ersten Ausbildungsstätten für soziale Arbeit in Deutschland.
Es gibt Literatur über Ellen Ammann, allerdings noch nicht viel. Zu den Spuren, die Ellen Ammann hinterlassen hat, gehörte eben auch die Erwähnung in den Protokollbüchern des Bauvereins München-Haidhausen. Und so sind wir auf diese spannende Frau gestoßen und sie wurde ein Teil unserer Geschichte, der Chronik einer Baugenossenschaft.
Wie durch die Lupe
„Mikrogeschichte“ faszinierte mich schon im Studium. Aus der genauen Betrachtung eines speziellen Ereignisses oder einer bestimmten Person lässt sich der Bogen zu den großen Erzählungen herstellen. Unsere Arbeit bei Neumann & Kamp besteht viel aus den kleinen Geschichten, aus dem Geschäftsalltag der Unternehmen oder Vereine, über die wir forschen und schreiben. Als Quellenmaterial steht uns oft ein Keller voller Dokumente zur Verfügung. So erschließen wir uns die Geschichte unserer Kunden Stück für Stück.
Gleichzeitig nehmen wir damit die Vergangenheit unter die Lupe – und entdecken immer wieder spannende Details. Für das Verständnis dieser Details ist es natürlich wichtig, sie im historischen Kontext zu betrachten. Aber manchmal ermöglichen sie umgekehrt einen ungewöhnlichen Blick auf diesen Kontext. Und dann wird Geschichte auf einmal lebendig: Auf der „Gänsewiese“ steht Ellen Ammann und betrachtet das eindrucksvolle dreiflügelige Gebäude, für „alleinstehende Frauen und Mädchen, die im Zusammenleben mit anderen Zusammenschluß und Rückhalt suchen ohne ihre Selbständigkeit aufgeben zu wollen“.
Lohnsteuerhilfe für alle
Einige Jahrzehnte später standen über 300 Menschen vor einem anderen Gebäude, einem unscheinbaren Büro in der Landsberger Straße. Auch diese Menschen begegneten uns bei einer historischen Recherche, diesmal zur Geschichte der Lohnsteuerhilfe Bayern e.V. Und sie wurden für mich zu einem anschaulichen Bild für die Aufbruchsstimmung der späten 1960er-Jahre, in der Tausende Gastarbeiter nach München kamen und die Stadt am Vorabend der Olympischen Sommerspiele 1972 ein modernes U- und S-Bahn-Netz bekam. Diese Gastarbeiter waren dringend auf die Beratung für die Steuerrückerstattung angewiesen – unter anderem deshalb wurde die Lohnsteuerhilfe Bayern gegründet.
Ein Gemälde als Werbung für die Lohi in den 1970er-Jahren.
Bisher begeisterte mich am Ende noch jedes historische Thema, über das ich geforscht und geschrieben habe (eine Ausnahme bilden hier vielleicht die Tagebücher von Joseph Goebbels). Und es sind gerade die kleinen Details und die Alltagsgeschichten, die die Vergangenheit zum Leben erwecken. Viele dieser Geschichten erscheinen uns heute fremd, andere wirken altbekannt und vertraut – und für mich enthalten sie vor allem diese Botschaft: Geschichte ist nicht langweilig, sie ist spannend und sie betrifft uns.
von Katharina Roth
München, Juni 2019