Auf nach Schweden – deutsche Wirtschaftsarchivare tagen in Stockholm
„Archive ohne Grenzen – Grenzen für Archive“ – 55. VdW-Arbeitstagung vom 5.–7.Mai 2019
Eine Nachlese
Großer Empfang im Goldenen Saal des Stockholmer Stadshus
Jährlich trifft sich die Vereinigung deutscher Wirtschaftsarchivare zu ihrer großen Arbeitstagung. Meist fungiert eines der großen deutschen Unternehmensarchive als Gastgeber. Die 55. Tagung 2019 war anders geplant: Gastgeber war das Centrum för Näringslivshistoria (Zentrum für Unternehmensgeschichte) in Schweden und die deutschen Wirtschaftsarchivare machten sich auf nach Stockholm.
Traditionell beginnt die Tagung am Sonntagabend mit einem Empfang, diesmal im Goldenen Saal von Stockholms Stadshus, dem repräsentativen Sitz der Stadtregierung auf Kungsholmen. Die rund 100 aus Deutschland, Österreich und der Schweiz angereisten Archivarinnen und Archivare wurden von der Präsidentin des Stockholmer Stadtrats, Cecilia Brinck und dem Direktor des Zentrums für Unternehmensgeschichte, Alexander Husebye, im Goldenen Saal begrüßt.
100 Teilnehmer, das klingt viel, es waren allerdings deutlich weniger Teilnehmer als sonst, Auslandsreisen werden eben nicht so leicht bewilligt. Neumann & Kamp Historische Projekte war mit zwei Vertretern präsent, Thomas Forstner als neuer Leiter der Abteilung für Archivdienstleistungen und Christian Zech. Neumann & Kamp ist seit vielen Jahren Stammgast auf der VdW-Tagung. Wir treffen hier Kollegen und Kunden aus Unternehmensarchiven, nehmen an den aktuellen Fachdiskussionen bei den Vorträgen teil und können uns auf der angeschlossenen Fachmesse über neueste Entwicklungen der Archivausrüster (Hard- und Software) informieren.
Schwedische Streichhölzer
Der Montag begann mit einer Begrüßung durch den VdW-Vorsitzenden Martin L. Müller und den stellvertretenden deutschen Botschafter in Schweden, Manfred Schüler, in der ehemaligen Garnisonskirche auf Skeppsholmen. Inhaltlich wurde die Tagung mit einem kurzweiligen Vortrag des in Stockholm beheimatete deutschen Kulturjournalisten Thomas Steinfeld eröffnet. Seinfeld zeigte Schlaglichter aus der Geschichte der deutsch-schwedischen Wirtschaftsbeziehungen auf. Erwähnt sei hier nur die Kuriosität des Zündwarenmonopolgesetzes aus dem Jahr 1930, welches der Firma des schwedischen Industriellen Ivar Kreuger als Gegenleistung für einen 500-Millionen-Kredit an das Deutsche Reich bis in die 1980er Jahre das Monopol auf die Produktion und den Vertrieb von Streichhölzern im gesamten Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik Deutschland einräumte.
Spuren deutscher Kaufleute in schwedischen Archiven
Die erste Sektion der Tagung widmete sich vielfältigen Aspekten der deutsch-schwedischen Wirtschaftsbeziehungen von der frühen Neuzeit bis in die jüngste Vergangenheit. Heiko Droste (Stockholm) ging in seinem Vortrag den spärlichen Spuren deutscher Kaufleute der frühen Neuzeit in schwedischen Archiven nach. Diese sind tatsächlich im ganzen Ostseeraum so gut wie überhaupt nicht vorhanden. Die Aktivitäten der Kaufmannschaft und deren enge Vernetzung mit dem Hof und den politischen Eliten sind nur auf Umwegen zu rekonstruieren, was angesichts der großen Bedeutung des Commerciumsim 17. Jahrhundert – etwa auch bei der Kriegsfinanzierung – Rätsel aufgibt. Warum hinterließen frühneuzeitliche Kaufleute im Gegensatz zu Adelsfamilien keine Archive? Sind sie verloren gegangen oder wurden sie nie angelegt? Droste hat hierauf bislang keine Antwort.
Einen Sprung in das 20. Jahrhundert vollzog Tony Nilson (Älmhut) mit seinem Vortrag über die frühe Expansion des schwedischen Einrichtungsriesen IKEA. Bemerkenswert erscheint die rasante Entwicklung des Unternehmens, das 1958 in der schwedischen Provinz sein erstes, für damalige Verhältnisse sehr futuristisches Möbelhaus eröffnete.
Ein weiterer Vortrag von Anders Houltz (Bromma) ging auf die vielfältigen Quellen deutsch-schwedischer Wirtschaftsbeziehungen ein, die sich in den rund 70 Regalkilometern Archivalien (!) des Centrum för Näringslivshistoria finden lassen.
Benjamin Obermüller vom Archiv der Henkel AG & Co KGaA (Düsseldorf) gab einen auch kulturhistorisch reizvollen Einblick in die Frühzeit der Aktivitäten des Unternehmens Henkel in Schweden. Wie zuvor die deutsche Hausfrau, musste auch die schwedische das „richtige Waschen“ erst lernen und sich von althergebrachten Methoden wie der Anwendung von mit Birkenasche versetzter Kernseife lösen, wozu das Unternehmen in den 1930er Jahren eigene „Persil-Schulen“ einrichtete.
Kulturgüterschutz und Unternehmensarchive in internationalen Konzernen
In der zweiten Sektion beschäftigten sich die Tagungsteilnehmer mit den unterschiedlichen Modellen des Kulturgüterschutzes in Deutschland, der Schweiz und in Schweden. Andrea Hohmeyer (Hanau) gab zuerst anhand des Beispiels des Konzernarchivs von Evonik einen Einblick in den Weg, einzelne Archivbestände in das Verzeichnis national wertvoller Archive eintragen zu lassen und dadurch vor Vernichtung oder Verbringung ins Ausland (etwa im Falle von Mergers & Acquisitions) zu schützen. Dies ist seit der Novellierung des Kulturgüterschutzgesetzes 2016 möglich, die eine für die Archive sehr positive Aufhebung der bisherigen Trennung von Archiv- und Kulturgut mit sich brachte. Bisher haben 27 Unternehmensarchive von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.
Anschließend stellte Flavio Häner von der Fachstelle Kulturgüterschutz des Kantons Basel-Stadt die Entwicklung der Gesetzgebung zum Kulturgüterschutz in der Schweiz vor. Diese ist ganz auf den Schutz im Falle von Kriegshandlungen, Katastrophen und Naturereignissen ausgerichtet, beinhaltet anders als die deutsche Gesetzgebung aber keinen Eingriff in die Rechte der Eigentümer. Hieraus entspann sich eine durchaus lebhafte Diskussion, in welcher vor allem der Gegensatz zwischen einer libertären und einer paternalistischen Staatsauffassung deutlich wurde.
Im Anschluss daran ging der Vortrag von Lars Ilshammar (Königliche Bibliothek zur Stockholm) zum Thema „Business and other private archives within the Swedisch archival framework“ etwas unter.
DSGVO im Archivalltag
Den Arbeitstag beschloss eine von Prisca Straub (München) moderierte Podiumsdiskussion mit Teilnehmern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zum Thema „Ein Jahr DSGVO – Erfahrungen, Probleme, Perspektiven.“ Die Aufregung, die mit dem Inkrafttreten der DGVSO einherging, war weitgehend unbegründet. Hierüber herrschte weitgehend Einigkeit bei allen Diskutanten. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass Datenschutz nur für lebende Personen gilt, Archive es aber vorwiegend mit toten Personen zu tun haben – sieht man von den Benutzern ab. Gleichwohl bleibt es eine vorrangige Aufgabe v.a. der Wirtschaftsarchivarinnen und -archivare – die ja stets ohne staatlichen Auftrag bzw. ohne archivgesetzliche Grundlage operieren – nachzuweisen, dass ihr Handeln im öffentlichen Interesse ist. Dies kann – wie die Diskussion zeigte – auf vielfältige Weise geschehen.
Das schwedische Modell für Unternehmensarchive und Unternehmensgeschichte
„Zukunftsperspektiven der Wirtschaftsarchive und der Unternehmensgeschichte“ war die Podiumsdiskussion betitelt, die den zweiten Arbeitstag eröffnete. Zunächst aber gab der Leiter des Centrum för Näringslivshistoria, Alexander Husebye (Bromma), einen interessanten Einblick in die Geschichte und Entwicklung dieser Institution. Traditionelle Unternehmensarchive existieren in Schweden kaum. Das Centrum wurde 1974 als Public Private Partnership zwischen der Stadt Stockholm und der Handelskammer gegründet und ist als gemeinnütziger Mitgliederverein mit derzeit rund 340 Mitgliedsunternehmen organisiert. Unternehmen aus ganz Schweden lagern ihre Archivalien im Centrum ein, bleiben aber im Regelfall deren Eigentümer. 22 Archivarinnen und Archivare betreuen die Bestände von derzeit rund 7.000 Unternehmen. Sie werden dort nicht nur verzeichnet und verwahrt, sondern auch – etwa in Publikationen wie einer eigenen Zeitschrift – der Öffentlichkeit präsentiert. Die Verfügbarkeit für die Unternehmen bleibt stets gewährleistet. Überschüsse des Vereins (der Umsatz liegt bei rund 5,5 Mio Euro im Jahr) fließen in ein Forschungssekretariat, das eigenständige nichtkommerzielle Projekte durchführt und externe Forscher unterstützt.
Schätze des Centrum för Näringslivshistoria
Bei einer abschließenden Exkursion in das Centrum för Näringslivshistoria am Nachmittag des zweiten Tagungstages konnten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor Ort in Bromma über dessen vielfältige Aktivitäten informieren. Die Stockholmer Kollegen öffneten ihre Archivkartons und zeigten einige der ihnen anvertrauten Schätze, darunter auch Sammlungsobjekte wie Teile aus Karl Lagerfelds erster Kollektion für den schwedischen Modekonzern H&M und Ericssons ersten Tablet-Computer, gewissermaßen ein Vorläufer des iPad.
Die nächste VdW-Tagung wird vom 24.-26. Mai 2020 bei der Deutschen Bank und Frankfurt/Main stattfinden.